Die Zeit der Wohlfühl-Politik ist vorbei

Bundestagswahl 2017: Deutschland hat gewählt

Theresa King

In ihrer Analyse der Bundestagswahl 2017 skizziert Theresa King die Ausgangslage der Parteien, betrachtet den Wahlkampf und sucht nach den Gründen für das Wahlergebnis. Abschließend zieht sie sechs Lehren aus dem Wahlausgang.

Die Parteien vor der Bundestagswahl 2017

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 richtete Angela Merkel den Satz „Sie kennen mich“ an die deutsche Bevölkerung und paraphrasierte damit die Wahlkampfstrategie der Union. Denn bereits Cato wusste: Ignotum tibi tu noli preponere notis – Bevorzuge nicht dir Unbekanntes vor Bekanntem 1. Und wie schon Konrad Adenauer lange Zeit vor ihr, konnte auch Angela Merkel die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, keine Experimente zu wagen und mit ihr Kontinuität und Beständigkeit zu wählen – das Ergebnis waren über 40 Prozent der Stimmen für die Union. Auch im Wahlkampf 2017 setzte die CDU auf ihren größten Trumpf, die Kanzlerin. Gleichwohl war die Situation dieses Mal eine gänzlich andere als noch vier Jahre zuvor. Denn war das Wahljahr 2013 noch geprägt von einem gesamtgesellschaftlichen Verlangen nach Sicherheit, Stabilität und Kontinuität und dem Wunsch nach einer konsensorientierten Politik, so kann die gesellschaftliche Stimmung vor der Bundestagswahl 2017 als aufgeheizt und die politische Situation als polarisierend beschrieben werden. Darüber hinaus galt Angela Merkel selbst – zuvor aufgrund ihrer Immunität gegen jedwede Kritik lange als „Teflon-Kanzlerin“ bezeichnet – spätestens seit der ungeplanten Grenzöffnung 2015 nicht mehr als unangreifbar. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung schwand und auch in der eigenen Partei, die lange als „Kanzlerwahlverein“ bezeichnet wurde, musste sich die Bundeskanzlerin immer häufiger für ihre Politik rechtfertigen. Besonders deutlich wurde das im Konflikt mit der bayerischen Schwesterpartei, die Merkels Flüchtlingspolitik nicht mittragen wollte.

Die SPD kämpfte bereits vor dem Wahljahr 2017 mit niedrigen Umfragewerten. Neuen Aufwind erhielt sie im Januar: „Gott-Kanzler Schulz“, „Sankt Martin“, „Schulzzug ohne Bremsen“ – im Internet, aber auch in den klassischen Medien, gab es nach der überraschenden Entscheidung, dass nicht Sigmar Gabriel, sondern Martin Schulz die SPD in den Wahlkampf führen würde, einen regelrechten Hype. Schnell wurde der gelernte Buchhändler und ehemalige Bürgermeister von Würselen zum Hoffnungsträger der schwächelnden Sozialdemokraten. Und auch die Umfragen schienen der parteiinternen Aufbruchsstimmung zunächst rechtzugeben. Lag die SPD um den Jahreswechsel noch bei 20 Prozent, kletterte sie zwischenzeitlich in den Umfragen auf über 30 Prozent. Doch auf das „Schulz-Hoch“ folgte Ernüchterung. Drei verlorene Landtagswahlen – im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – und die darauf folgende Medienberichterstattung trugen ihren Teil dazu bei, dass ein erneuter Abwärtstrend einsetzte und die SPD sich in den Umfragen erneut bei 20 bis 25 Prozent einpendelte.

Die AfD, bei der Bundestagswahl 2013 noch an der Fünfprozenthürde gescheitert, war spätestens seit dem Sommer 2015 im Aufwind, als Angela Merkel die deutsche Grenze für Flüchtlinge öffnete und die Flüchtlingspolitik für lange Zeit zum alles beherrschenden Thema wurde. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 war die Partei in 13 Landesparlamenten vertreten. In den Bundestagswahlkampf zog die rechtspopulistische Partei mit einem Spitzenduo aus dem nationalkonservativen Alexander Gauland sowie Alice Weidel, die der Partei ein liberales, moderates Gesicht geben sollte.

In der vorletzten Legislaturperiode trug die FDP in einer schwarz-gelben Koalition Regierungsverantwortung, 2013 folgte der Absturz der Liberalen: sie scheiterten an der Fünfprozenthürde und schieden aus dem Parlament aus. 2017 präsentierte sich die Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Christian Lindner in einem neuen Gewand: bunter, moderner und unabhängiger von der Union. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen konnte die FDP gute Ergebnisse erzielen und zog gestärkt in den Bundestagswahlkampf.

Die Linke wurde bei der Bundestagswahl 2013 drittstärkste Kraft und war Oppositionsführerin in der zurückliegenden Legislaturperiode. 2017 zog sie mit einem Spitzenduo aus Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch in den Wahlkampf, das zwei Flügel der Partei verkörperte. Als fast schon traditionell lässt sich die Debatte bezeichnen, die diese Flügel auch im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 führten und die sich zusammenfassend um die Frage drehte: Fundamentalopposition oder Regierungsfähigkeit?
Die Grünen starteten holprig in das Wahljahr. Bei der Urwahl, mit der die Partei ihre Spitzenkandidaten bestimmte, gab es keine Gegenkandidatin zu Katrin Göring-Eckardt und bei den männlichen Bewerbern nahezu ein Patt: mit nur 70 Stimmen Vorsprung gewann der Parteivorsitzende Cem Özdemir gegen den schleswig-holsteinischen Umweltminister Robert Habeck. Auch einige unbedachte Äußerungen von prominenten und weniger prominenten Parteimitgliedern, die von den Medien aufgegriffen wurden, waren mitverantwortlich, dass die Grünen in eine Negativspirale gerieten, die sich in den Umfragen widerspiegelte und die 2016 noch denkbare Zweistelligkeit in weite Ferne rücken ließ.

Der Bundestagswahlkampf 2017

Die Monate im Vorfeld der Bundestagswahl waren von einer Dualität geprägt, die fast paradox anmutet: auf der einen Seite stand eine politisierte und polarisierte Öffentlichkeit, die leidenschaftlich über Politik stritt, auf der anderen Seite ein Wahlkampf, der eher träge dahinfloss.

„Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“
Die CDU setzte auf das bewährte Rezept, Kontinuität in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs zu stellen und warb unter dem Slogan „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ für eine Fortführung der Merkel‘schen Politik. Doch die unionsinterne Uneinigkeit über den Kurs der Konservativen und der offene Konflikt zwischen der Kanzlerin und dem bayerischen Ministerpräsidenten erschwerten den Wahlkampf. Anders als noch vier Jahre zuvor gelang es der Union nicht, die gesellschaftliche Stimmung aufzugreifen und auf die Entwicklungen im Wahlkampf zu reagieren. Auch der direkte Kontakt zu über einer Million Wählerinnen und Wähler durch einen intensiven Haustür-Wahlkampf konnte das letztlich nicht kompensieren.2 Eindrücklich fasste Thomas Strerath, Vorstand der Agentur Jung von Matt, mit der die Union im Wahlkampf zusammenarbeitete, das Problem der Partei zusammen: „Wir hatten in den drei Wochen nach dem TV-Duell, in den drei Wochen der Skandale der AfD, keine neue Antwort mehr.“3

„Zeit für mehr Gerechtigkeit“
Einem ähnlichen Problem sah sich die SPD mit ihrem Wahlkampfmotto „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ gegenüber. Der Versuch, mit der Rückkehr zu sozialdemokratischen Kernthemen zu neuem Profil zu gelangen, scheiterte. Anders als seine Kontrahentin, die sich mit politischen Aussagen zurückhielt, wagte sich Schulz im Wahlkampf immer wieder mit konkreten inhaltlichen Forderungen – beispielsweise in der Flüchtlingspolitik oder dem Dieselskandal – vor. Einen nachhaltigen Effekt konnte er damit jedoch nicht erzielen. Schulz, der einen außerordentlich engagierten Wahlkampf führte und die Partei geschlossen hinter sich versammeln konnte, befand sich in der unkomfortablen Situation, weder über den Amtsbonus einer Angela Merkel zu verfügen, noch einen angriffslustigen Oppositionswahlkampf führen zu können, da seine Partei aus ihrer Rolle als Juniorpartner einer Großen Koalition antrat. Dass der SPD-Kanzlerkandidat zuvor Präsident des Europäischen Parlaments und deshalb neu auf dem bundespolitischen Parkett war, änderte daran wenig. Und obgleich Angela Merkel angeschlagen in den Wahlkampf ging – Martin Schulz konnte ihr nach Meinung der überwiegenden Mehrheit im Land weder hinsichtlich seiner Kompetenz noch seiner Eignung als Kanzler das Wasser reichen.4

„Trau dich, Deutschland“
Die AfD, die mit dem Slogan „Trau dich, Deutschland“ antrat, war die lauteste und provokanteste Kraft im Wahlkampf 2017. Mit ihren Schwerpunkten Migration, Islam und Innere Sicherheit bespielte die AfD besonders kontroverse Themenfelder und grenzte sich scharf von allen übrigen Parteien ab. In den TV-Debatten vor der Wahl gelang es der AfD, ihre Themen prominent zu setzen und den Diskurs zu bestimmen. Die Medien berichteten ausführlich über alle Äußerungen und wahlkampftaktischen Manöver von Weidel und Gauland, und auch im Netz war die Partei sehr aktiv und mobilisierte insbesondere über die sozialen Netzwerke. Die Strategie der AfD, sich als einzige Alternative zum etablierten Parteiensystem zu präsentieren, zu provozieren und zu mobilisieren, ging auf. Sie überstand zahlreiche Skandale – insbesondere in den drei Wochen vor der Wahl – unbeschadet und konnte gerade in dieser Zeit zahlreiche Stimmen hinzugewinnen.

„Denken wir neu“
„Denken wir neu“, so lautete der Slogan der FDP, die im Wahlkampf 2017 damit warb, nach der Erneuerung der eigenen Partei nun mit der Erneuerung der Republik fortfahren zu wollen. Eine radikal auf den rhetorisch begabten Spitzenkandidaten zugeschnittene Kampagne, eine konsequente Zielgruppenansprache und ein starker digitaler Auftritt: so lässt sich das Erfolgsrezept der Liberalen zusammenfassen. Die Partei präsentierte sich selbstbewusst und unabhängig und setzte vor allem auf die Zukunftsthemen Digitalisierung und Bildung.

„Sozial. Gerecht. Für alle.“
Die Linke setzte in ihrer Kampagne unter dem Motto „Sozial. Gerecht. Für alle.“ auf linke Kernthemen und richtete sich überwiegend an ihre bewährte Wählerschaft. Im Wahlkampf trat die Partei solide auf, in der Medienberichterstattung aber ging sie zwischen der provokanten AfD, der neuen FDP und den zeitweise schwächelnden Grünen unter. Mit ihrer prominenten und telegenen Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht konnte Die Linke diesem Phänomen zwar partiell gegensteuern, gänzlich kompensieren ließ es sich jedoch nicht.

„Zukunft wird aus Mut gemacht“
Das Image als Verbotspartei loswerden, Flügelkämpfe vermeiden, dem in den Medien dauerpräsenten Negativtrend zum Trotz Stimmen mobilisieren – der Grünen-Wahlkampf, der unter dem Motto „Zukunft wird aus Mut gemacht“ stand, musste einiges leisten. Lange sah es nicht so aus, als könne das gelingen. Die Spitzenkandidaten, die beide dem Realo-Flügel der Partei angehören, blieben blass und die Partei konnte mit ihren Themen nicht durchdringen. Erst als nach dem wenig mobilisierenden TV-Duell zwischen Angela Merkel und ihrem Herausforderer der Kampf um Platz Drei5 in den Vordergrund rückte, gewann die Partei an Profil: Die Grünen inszenierten sich als Gegenpol zur AfD und betonten vor allem die Differenzen zwischen Grünen und Liberalen.
 

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Das Ergebnis der Bundestagswahl 2017

Angela Merkel verliert an Zugkraft
Nachdem die Union bei der Bundestagswahl 2013 über 40 Prozent der Stimmen für sich gewinnen konnte, kann man bei der Wahl 2017 von einem regelrechten Absturz sprechen. Mit 33,0 Prozent wurde sie zwar stärkste Kraft, erzielte jedoch ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949.6 Die CSU musste in Bayern ebenfalls herbe Verluste einstecken und fuhr mit 38,8 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein – sie verlor mehr als zehn Prozentpunkte. Die Gründe, die Unionswählerinnen und -wähler für ihre Entscheidung angeben, decken sich nahezu mit den Zahlen zur Bundestagswahl 2013: 38 Prozent entschieden sich aufgrund des Programms für die Partei, ebenso viele aufgrund der Kanzlerin.7 Insgesamt erhielt die Union jedoch über zwei Millionen weniger Stimmen – damit verloren sowohl das Programm als auch Angela Merkel selbst an Zugkraft. 67 Prozent der ehemaligen Unionswählerinnen und -wähler gaben außerdem an, dass die Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik die Sorgen der Menschen vernachlässige.8 Das selbstgesteckte Ziel der Unionsparteien, es dürfe rechts neben der Union keine andere Partei im Deutschen Bundestag geben, wurde mit dem triumphalen Einzug der AfD verfehlt. Fast eine Million ehemalige Unionsstimmen wanderten bei dieser Wahl zur AfD, mehr als von sonst einer Partei. 9,10 Damit werden die Kritikerinnen und Kritiker der Kanzlerin innerhalb der Union Aufwind erhalten und der Kurs der CDU, die sich seit einigen Jahren den Vorwurf der „Sozialdemokratisierung“ gefallen lassen muss, könnte sich in der kommenden Legislaturperiode wandeln. Anders als 2013, als Angela Merkel nach der Wahl als strahlende Siegerin gefeiert wurde, geht sie aus der Bundestagswahl 2017 angeschlagen hervor und wird sich in der kommenden Legislaturperiode stärker als bisher an der Programmatik ihrer Politik messen lassen müssen.

SPD muss um ihren Status als Volkspartei bangen
Die SPD erlitt bei der Bundestagswahl 2017 eine Niederlage: mit 20,5 Prozent blieb sie weit hinter der Union zurück, fuhr das bislang schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein und verlor Wählerinnen und Wähler an alle anderen Parteien. Damit wird sich die SPD die Frage gefallen lassen müssen, ob sie überhaupt noch als Volkspartei bezeichnet werden kann. Vergleichsweise stark war die SPD bei ihrer Stammwählerschaft: älteren Wählerinnen und Wählern, wirtschaftlich schlechter gestellten Bürgerinnen und Bürgern sowie Menschen mit einfacher Bildung.11 Doch selbst in diesen Wählergruppen kam sie nicht in die Nähe der 30-Prozentmarke. Auch der als Hoffnungsträger gehandelte Martin Schulz entfaltete keine relevante mobilisierende Wirkung: Ähnlich wie 2013, als 21 Prozent der Befragten angaben, die SPD aufgrund ihres Spitzenkandidaten gewählt zu haben, waren es auch 2017 lediglich 22 Prozent und damit deutlich weniger als unter den Unionswählern.12 In den Kompetenzzuschreibungen, besonders in den relevanten Themenfeldern Innere Sicherheit und Flüchtlingspolitik, blieb die SPD ebenfalls hinter der Union zurück.13 Wenige Minuten nach Bekanntwerden der ersten Prognosen kündigte die SPD an, sich in der nächsten Legislaturperiode in der Opposition erneuern zu wollen. Dafür wird sie sich insbesondere programmatisch neu aufstellen müssen – denn dass personelle Veränderungen allein die Bürgerinnen und Bürger nicht überzeugen, hat diese Bundestagswahl eindrücklich gezeigt.

AfD mobilisiert Protestwählerinnen und -wähler und punktet vor allem im Osten
Die AfD, die 2013 mit 4,7 Prozent an der Fünfprozenthürde scheiterte, schaffte es bei der Bundestagswahl 2017 nicht nur ins Parlament, sondern wurde mit 12,6 Prozent drittstärkste Kraft im neuen Bundestag. Insgesamt erhielt die Partei fast vier Millionen Stimmen mehr als noch 2013. Die meisten Stimmen konnte die Partei von ehemaligen Wählerinnen und Wählern der Union gewinnen, außerdem mobilisierte sie über eine Million Nichtwählerinnen und Nichtwähler, deutlich mehr als jede andere Partei.14 Besonders im Osten konnte sie ein beachtliches Ergebnis einfahren und wurde mit über 20 Prozent zweitstärkste Kraft. In Sachsen gewann die AfD die Wahl vor der CDU, dort holte sie auch drei Direktmandate. Besonders stark war die AfD in der Gruppe der Arbeiterinnen, Arbeiter und der Arbeitslosen und bei Menschen, die angaben, sich in einer schlechten wirtschaftlichen Situation zu befinden und sich benachteiligt fühlen. Bei Frauen, sehr jungen und sehr alten Wählerinnen und Wählern war die AfD weniger erfolgreich, ebenso bei höher Gebildeten.15 Die Nachwahlbefragungen von Infratest dimap zeigen auch, dass die AfD vor allem eine Protestpartei ist: So gaben über 60 Prozent der AfD-Wählerinnen und -wähler an, sie hätten ihre Wahlentscheidung aus Enttäuschung über die anderen Parteien getroffen, nur ein Drittel wählte die AfD aus Überzeugung.16 Die Befragungen bestätigen auch, dass sich die Stärke der jungen Partei aus der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin seit dem Sommer 2015 speist. Denn die größte Sorge der AfD-Wählerinnen und -wähler ist es, dass sich Deutschland und seine Kultur stark verändern werden und der Einfluss des Islam zunimmt.17 Damit ist es erstmals einer Rechtsaußenpartei gelungen, in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Abzuwarten bleibt jedoch, ob sich die AfD auch langfristig im Parteiensystem verankern kann. Entscheidend hierfür wird auch sein, wie die Partei mit ihrer inneren Spaltung in einen gemäßigteren und einen extremen Flügel umgeht.

Erfolgreiches Comeback der FDP auch aus koalitionstaktischen Gründen
Der FDP glückte der Wiedereinzug in den Bundestag, und mit 10,7 Prozent durfte sich die Partei über ein gutes Ergebnis freuen. Wie bereits 2009 wurde die FDP 2017 erneut auch aus strategischen Erwägungen heraus gewählt. Fast 40 Prozent der FDP-Wähler und -wähler gaben bei Infratest dimap an, die Partei aus koalitionstaktischen Gründen gewählt zu haben. Dabei konnten die Liberalen über eine Million Stimmen von ehemaligen Wählerinnen und Wählern gewinnen. Dieser Effekt sollte auch 2009 eine Fortsetzung der Großen Koalition verhindern. Trotz des prominenten Spitzenkandidaten gab lediglich ein Viertel der FDP-Wählerinnen und -wähler an, die Partei aufgrund von Christian Lindner gewählt zu haben.18

Auch Die Linke schöpft aus Protestwählerpotenzial
Die Linke, drittstärkste Kraft in der zurückliegenden Legislaturperiode, erlangte 9,2 Prozent und konnte ihr Ergebnis von 2013 damit zwar leicht verbessern, den dritten Platz konnte sie jedoch nicht verteidigen. In Berlin gewann sie vier Wahlkreise und auch in Leipzig erhielt sie ein Direktmandat. Die Anzahl der Protestwählerinnen und Protestwähler war bei Der Linken zwar geringer als bei der AfD, doch auch unter den Linken-Wählern und -wählern trafen laut Infratest dimap fast 40 Prozent ihre Entscheidung aus Enttäuschung über die anderen Parteien.19 Wie auch die AfD war Die Linke besonders im Osten stark – hier verzeichnete sie jedoch auch ihre größten Verluste: mit der AfD hat sie starke Konkurrenz in ihrem Stamm-Milieu erhalten.

Grüne mobilisieren in letzter Minute
Die Grünen verfehlten ihr Wahlziel, drittstärkste Kraft im Bundestag zu werden, konnten mit 8,9 Prozent jedoch ihr Ergebnis der letzten Bundestagswahl ebenfalls leicht verbessern. Ihr einziges Direktmandat holten die Grünen im links-alternativen Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg. Große Zuwächse konnten sie in Baden-Württemberg und in Schleswig Holstein verzeichnen, in beiden Bundesländer verfügt die Partei mit Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) und Robert Habeck (Schleswig-Holstein) über äußert populäre Persönlichkeiten. Unter Jungwählerinnen und Jungewählern waren die Grünen besonders stark, außerdem konnten sie viele Stimmen von Angestellten und Selbstständigen sowie gut Gebildeten gewinnen. Bei Frauen sind die Grünen traditionell erfolgreicher als bei Männern, so auch bei dieser Wahl. Der Anteil der Spätentscheider war unter den Grünen-Wählerinnen und -wählern höher als bei jeder anderen Partei: 40 Prozent gaben an, ihre Entscheidung für die Grünen erst in den letzten Tagen vor der Wahl oder am Wahltag selbst getroffen zu haben. Als Grund für ihre Entscheidung gaben über 70 Prozent die Programmatik der Grünen an.20 

Nach der Ankündigung der SPD, in die Opposition zu gehen, stehen den Grünen, der FDP und der Union nun herausfordernde Verhandlungen für eine mögliche Jamaika-Koalition bevor. Dafür gibt es erst zwei Vorbilder auf Landesebene: im Saarland scheiterte ein solches Bündnis 2012 vor Ablauf der Regierungszeit, in Schleswig-Holstein regiert die CDU seit Juni 2017 gemeinsam mit Grünen und FDP. Auf Bundesebene verspricht eine Jamaika-Koalition eine neue Dynamik, sie ist jedoch gleichzeitig riskant. Denn ein Dreierbündnis bedeutet nicht nur herausfordernde Koalitionsverhandlungen, sondern aller Voraussicht nach auch eine lebhafte Legislaturperiode.
 

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Sechs Lehren aus der Bundestagswahl 2017

1. Die Regierungsparteien wurden abgestraft
Bei der Bundestagswahl haben die Bürgerinnen und Bürger Union und SPD für ihre Regierungsarbeit abgestraft. Beide Parteien mussten deutliche Verluste hinnehmen, gemeinsam kommen sie nur noch auf knapp über 50 Prozent der Stimmen. Die hohe Zustimmung zur AfD, die als Alternative zur etablierten Politik antrat, stützt diese Folgerung.

2. Osten und Westen wählen verschieden
Noch stärker als bei vergangenen Wahlen lassen sich Unterschiede zwischen den Ergebnissen im Osten und Westen der Republik beobachten. In den westlichen Bundesländern kommt die Union deutlich über 34 Prozent, die SPD liegt knapp über 20 Prozent, FDP und AfD sind zweistellig und die Grünen knapp unter zehn Prozent. Die Linke erlangt lediglich 7,2 Prozent. In den östlichen Bundesländern bleibt die Union deutlich unter 30 Prozent, die AfD wird mit über 20 Prozent zweitstärkste Kraft, Platz Drei geht mit 17,3 Prozent an Die Linke und erst dann folgt die SPD mit knapp unter 15 Prozent. Die FDP und die Grünen bleiben im Osten deutlich einstellig.

3. Die Grenzen zwischen Groß und Klein verschwimmen
Lange Jahre sprach man in Deutschland von den Volksparteien Union und SPD als den beiden großen und von den übrigen als den kleinen Parteien. Spätestens nach dieser Wahl muss man sich fragen, ob diese Begriffe noch zutreffen. Denn die vormals großen Parteien brachen ein und die SPD knackte die für Volksparteien so wichtige 30-Prozentmarke zuletzt 2005. Im Osten musste sie den zweiten Platz der AfD überlassen und wurde auch von der Linken überholt, in Sachsen bleibt selbst die CDU knapp hinter der AfD zurück.

4. Das Wahlverhalten wird wechselhafter
Schon seit Längerem ist zu beobachten, dass die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an eine bestimmte Partei abnimmt.21 Die Wahlentscheidung fällt häufig erst kurz vor der Wahl und die Zahl der Wechselwählerinnen und Wechselwähler nimmt zu. Diese Entwicklung wurde durch die Bundestagswahl 2017 bestätigt.22  Die Veränderungen in der Zusammensetzung des Parlaments zeugen von einer großen Wählermobilität und die Parteien können sich nicht mehr auf eine breite Stammwählerschaft verlassen, sondern müssen um jede Stimme kämpfen. Dadurch gewinnen die konkreten politischen Inhalte und die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien an Bedeutung und auch der Wahlkampf und die mediale Präsenz nehmen einen immer höheren Stellenwert ein.

5. Protestwählerinnen und Protestwähler suchen eine neue politische Heimat
Die Analysen des AfD-, aber auch des Linken-Ergebnisses haben gezeigt: In der deutschen Gesellschaft schlummert ein hohes Protestwähler-Potential. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dessen Ursache hat die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie zum Wahlverhalten der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017 gefunden. Während Modernisierungsbefürworter in den Angeboten aller bisher im Bundestag vertretenen Parteien eine politische Heimat finden können, waren Modernisierungsskeptiker bislang politisch heimatlos.23 Eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre wird es sein, in der Politik einen Weg zu finden, diese Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

6. Die Zeit der Wohlfühl-Politik ist vorbei
Die Regierungszeit von Angela Merkel war bislang von einer Wohlfühl-Atmosphäre geprägt. Ihr besonnener Politikstil versprach Ruhe und Konstanz, scharfe politische Kontroversen blieben nahezu aus. Damit wird es nach dieser Wahl vorbei sein. Die AfD wird das Parlament verändern, die Union wird ihren Kurs anpassen. und die SPD wird alles daran setzen, neues Profil zu gewinnen. Gegen dieses Profil wird sich Die Linke abgrenzen müssen und FDP und Grüne werden versuchen, ihre Wahlversprechen vehement voranzutreiben. Es verspricht eine spannende Legislaturperiode zu werden.

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UNSERE AUTORIN
Das wissenschaftliche Interesse der Politikwissenschaftlerin Theresa King gilt den Schnittstellen von Politik und Kommunikation, insbesondere die Wahl- und Einstellungsforschung, der Wahlkampfforschung und der Parteienforschung.

ANMERKUNGEN

1  Cato, zit. nach Samuel Singer (1999) Singer, Niesen-Schädlichkeit. Tübingen [Germany]: Max Niemeyer (Thesaurus proverbiorum medii aevi: Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, 9)., S. 26.
2  Insgesamt konnte die Union durch den Haustürwahlkampf jedoch offenbar 1,14 Prozentpunkte dazugewinnen (Conrad Clemens: Vortrag bei der Internationalen Konferenz für politische Kommunikation der Konrad-Adenauer-Stiftung, 16. Oktober 2017).
3  Thomas Strerath: Wir sind gescheitert. In: Horizont, 29.9.2017. URL: www.horizont.net/agenturen/kommentare/JvM-Vorstand-Thomas-Strerath-zum-Wahlausgang-Wir-sind-gescheitert-161379 [24.10.2017].
4  Vgl. Infratest dimap (2017): DeutschlandTREND September 2017, S. 12.
5  Drittstärkste Kraft zu werden, hat für die kleineren Parteien nicht nur symbolischen Wert. Gibt es im Bundestag eine Große Koalition, wird die drittstärkste Partei Oppositionsführer und darf bei den Parlamentsdebatten direkt nach der Regierung sprechen. Auch den Vorsitz im wichtigen Haushaltsausschuss des Bundestages füllen traditionell die Oppositionsführer aus.
6  Dabei verlor sie nicht nur relativ in Prozentpunkten, was durch den Einzug von FDP und AfD in den Bundestag absehbar war, sondern auch in absoluten Stimmen.
7  Vgl. Infratest dimap (2013): Wahlanalyse, S. 28; Infratest dimap (2017): Ergebnisse und Schnellanalysen, S. 11.
8  Infratest dimap (2017): Ehemalige CDU/CSU-Wähler zur Union. URL: wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-09-24-BT-DE/umfrage-cdu.shtml [24.10.2017].
9  In seiner Nachwahlbefragung, auch exit polls genannt, analysierte das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap auch die Wählerwanderungen zwischen den Parteien. Dafür fragte es, für wen die Wählerinnen und Wähler bei der vergangenen Wahl gestimmt haben. Diese Zahlen sind gleichermaßen spannend wie aufschlussreich. Da sie jedoch voraussetzen, dass die Wählerinnen und Wähler sich an ihre Wahlentscheidung von vor vier Jahren erinnern, was oft nicht der Fall ist, sollten sie unter Vorbehalt gelesen werden. Ein gutes Stimmungsbild bieten sie dennoch.
10  Vgl. Infratest dimap (2017): Wählerwanderungen. URL: wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-09-24-BT-DE/analyse-wanderung.shtml [24.10.2017].
11  Vgl. Infratest dimap (2017): SPD-Stimmenanteil. URL: wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-09-24-BT-DE/umfrage-spd.shtml [24.10.2017].
12  Vgl. Infratest dimap (2013): Wahlanalyse, S. 28; Infratest dimap (2017): Ergebnisse und Schnellanalysen, S. 9.
13  Vgl. Infratest dimap (2017): Kompetenzen. URL: wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-09-24-BT-DE/umfrage-kompetenz.shtml [24.10.2017].
14  Vgl. Infratest dimap (2017): Ergebnisse und Schnellanalysen, S. 22.
15  Vgl. ebd., S. 24.
16  Vgl. ebd.
17  Vgl. Infratest dimap (2017): Umfragen zur AfD. URL: wahl.tagesschau.de/wahlen/2017-09-24-BT-DE/umfrage-afd.shtml [24.10.2017].
18  Vgl. Infratest dimap (2017): Ergebnisse und Schnellanalysen, S 21.
19  Vgl. ebd., S. 15.
20  Vgl. ebd., S. 18.
21  Vgl. dazu bspw. Rüdiger Schmitt-Beck/Stefan Weick (2001): Die dauerhafte Parteiidentifikation – nur noch ein Mythos? In: Sozialberichterstattung Gesellschaftliche Trends Aktuelle Informationen, Ausgabe 26, Juli 2001.
22  Etwa 31 Prozent der Wählerinnen und Wähler trafen ihre Entscheidung in den letzten Tagen vor der Wahl oder am Wahltag selbst; vgl. Infratest dimap (2017): Ergebnisse und Schnellanalysen. Damit bleibt der Anteil der Spätentscheider seit 2005 im Schnitt weitgehend konstant, zuvor war er sprunghaft angestiegen (vgl. Richard Hilmer: Aktuelle Stimmungen und Trends – empirische Befunde der Wahlforschung. Präsentation am 13. April 2013 in Tutzing; Infratest dimap (2013): Wahlanalyse, S. 31.). Berücksichtigt man jedoch, dass der Anteil der Spätentscheider unter den AfD-Wählerinnen -wählern bei nur 13 Prozent lag, ergibt sich für die übrigen Parteien im Durchschnitt ein leichter Anstieg. Am höchsten war der Anteil der Spätentscheider mit 40 Prozent unter den Wählerinnen und Wählern der Grünen.
23  Vgl. Bertelsmann-Stiftung (2017): Wahlverhalten der sozialen Milieus. URL: www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/oktober/bundestagswahl-2017-wahlergebnis-zeigt-neue-konfliktlinie-der-demokratie/ [24.10.2017].

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