Wie die Vertrauensfrage zu Neuwahlen führt

Das Ergebnis war deutlich: Nur 207 Bundestagsabgeordnete sprachen Olaf Scholz ihr Vertrauen aus, 394 Abgeordnete stimmten gegen ihn. 116 Abgeordnete enthielten sich. Das bedeutet: Der Bundeskanzler verlor an diesem 16. Dezember 2024 die Vertrauensfrage.

Doch das war das, was Scholz wollte: Denn nun konnte er beim Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments beantragen. Wie allgemein erwartet folgte Frank-Walter Steinmeier diesem Antrag und rief Neuwahlen für den 23. Februar 2025 aus.

Mit Olaf Scholz stellte erst zum sechsten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Kanzler die Vertrauensfrage. Aber was ist die Vertrauensfrage überhaupt, warum gibt es sie und wer hat sie bisher schon angewendet? Ein Überblick.

Was ist die Vertrauensfrage?

Die Vertrauensfrage ist im Grundgesetz geregelt. Dort heißt es in Artikel 68:

Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.

Grundgesetz, Artikel 68 (1)

Das bedeutet: Der Bundeskanzler kann jederzeit das Parlament bitten, ihm oder ihr das Vertrauen auszusprechen. Dies kann er auch mit einem konkreten Gesetzesvorhaben verbinden – nach dem Motto: „Ich bitte Euch darum, mir das Vertrauen auszusprechen, indem Ihr dem folgenden Gesetz zustimmt.“ Einen festgelegten Wortlaut für die Vertrauensfrage gibt es nicht.

Mit der Vertrauensfrage will sich der Bundeskanzler eigentlich vergewissern, dass die Mehrheit des Parlaments weiterhin die Regierung unterstützt. Das kann zum Beispiel helfen, wenn besonders umstrittene Entscheidungen anstehen. Denn dann ist allen Mitgliedern der Regierungsfraktionen klar: Wenn sie jetzt dieses eine Gesetz nicht unterstützen – obwohl sie es persönlich vielleicht lieber ablehnen würden –, ist womöglich die komplette Regierung geplatzt.

Allerdings kam es auch schon drei Mal vor, dass ein Bundeskanzler eine Vertrauensfrage absichtlich verlor, um vorgezogene Neuwahlen zu erreichen. Genau dies war auch Olaf Scholz' Plan. Man spricht dann von einer „unechten Vertrauensfrage“, weil der Vorgang vom Grundgesetz eigentlich nicht so gemeint ist. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht 2005 klar gestellt, dass eine unechte Vertrauensfrage zulässig ist, wenn die Regierung andernfalls handlungsunfähig wäre.

Was passiert nach der Vertrauensfrage?

Ist die Frage beantragt, darf das Parlament frühestens 48 Stunden später darüber abstimmen. Im Fall von Olaf Scholz beantragte er die Vertrauensfrage daher am 11. Dezember 2024 bei der Bundestagspräsidentin (der Antrag im Wortlaut). Am 16. Dezember 2024 stimmte der Bundestag darüber ab. Grundsätzlich gibt es in einem solchen Fall drei Möglichkeiten:

  1. Die Vertrauensfrage wird gewonnen, das Parlament spricht dem Bundeskanzler mehrheitlich das Vertrauen aus. Dann ist die Regierung und vor allem die Position des Kanzlers gestärkt, und die Arbeit geht weiter.
  2. Die Vertrauensfrage wird verloren, die Mehrheit der Abgeordneten spricht dem Bundeskanzler kein Vertrauen aus. In dem Fall kann der Bundeskanzler den Bundespräsidenten bitten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Der Bundespräsident wiederum hat 21 Tage Zeit, um diesem Wunsch nachzukommen. Die Neuwahlen müssen dann innerhalb von 60 Tagen nach der Entscheidung des Bundespräsidenten stattfinden. Die Regierung bleibt übrigens geschäftsführend im Amt, bis der Bundestag nach der Wahl erneut einen Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin gewählt hat. Deutschland hat also immer noch eine Regierung, obwohl Scholz die Vertrauensfrage verlor – hier sehen Sie, wie diese sich nach dem Aus der FDP zusammensetzt.
  3. Theoretisch könnte es der Bundespräsident nach einer verlorenen Vertrauensfrage auch ablehnen, Neuwahlen anzusetzen. Dann hätte die Bundesregierung jedoch keine eigene Mehrheit im Bundestag mehr und wäre entweder handlungsunfähig oder müsste sich als Minderheitsregierung für jedes Vorhaben neue Mehrheiten organisieren.

Was geschah, als Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellte?

Im aktuellen Fall von Olaf Scholz war klar: Einen Minister der FDP hat der Kanzler entlassen, zwei weitere sind aus seiner Regierung ausgetreten, damit unterstützten auch die FDP-Abgeordneten im Bundestag die Regierung nicht mehr. Die verbliebenen Fraktionen – SPD und Grüne – hatten zusammen 324 Mandate im Bundestag. Für die absolute Mehrheit von 367 Stimmen fehlten also 43. Auch ein rot-grün-rotes Bündnis war nicht einmal eine theoretische Option: Die Linke ist im Bundestag nur mit 28 Abgeordneten vertreten.

Es war also absehbar, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verlieren dürfte. Aus inhaltlichen Gründen gab es überhaupt keinen Grund, dass Angehörige der anderen Fraktionen oder Gruppen – Union, AfD, Linke oder BSW – ihm im großen Stil ihr Vertrauen aussprechen. Allerdings befürchteten manche Parlamentarier:innen und Beobachter:innen, dass die AfD-Fraktion wider Erwarten doch für Scholz stimmen könnte, um Chaos im parlamentarischen Betrieb zu stiften. Denn wenn alle Abgeordneten von SPD, Grünen und AfD für Scholz gestimmt hätten, hätte der die Vertrauensfrage gewonnen, ohne es zu wollen. Um das zu verhindern, enthielten sich die Grünen-Abgeordneten bei der Abstimmung.

Drei Abgeordnete der AfD-Fraktion sprachen am Ende tatsächlich Scholz ihr Vertrauen aus, die anderen stimmten gegen ihn. In den anderen Fraktionen und Gruppen stimmten alle Abgeordneten entweder geschlossen für Scholz (SPD) oder geschlossen gegen Scholz (Union, FDP, BSW, Linke) bzw. enthielten sich (Grüne). Insgesamt 16 Abgeordnete stimmten nicht ab.

Steinmeier löste den Bundestag auf

Wie erwartet löste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Folge den Bundestag auf und setzte Neuwahlen für den 23. Februar 2025 an. Allerdings musste er damit etwas warten. Denn zwischen der Auflösung des Parlaments und den Neuwahlen dürfen maximal 60 Tage liegen. Da die Wahlen am 23. Februar stattfinden sollten, konnte Steinmeier das Parlament nicht vor dem 25. Dezember 2024 auflösen, dem ersten Weihnachtsfeiertag. Tatsächlich verkündete er die Auflösung letztlich am 27. Dezember.

Welche Bundeskanzler haben bisher schon die Vertrauensfrage gestellt?

Bisher kam es fünf Mal vor, dass ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage gestellt hat:

Willy Brandt, 1972

Willy Brandt (SPD) stellte die Vertrauensfrage 1972 und verlor sie absichtlich, um Neuwahlen auszulösen. Der Bundestag befand sich damals in einer Pattsituation, weil Brandt die Annäherung an die DDR und andere Staaten des Warschauer Paktes forcierte. Die sogenannte Ostpolitik war in der Bundesrepublik sehr umstritten, immer mehr Abgeordnete wechselten aus den Reihen der regierenden SPD- und FDP-Fraktionen in die der Unionsfraktion.

Brandt wollte also Neuwahlen, weil er hoffte, diese deutlich zu gewinnen und damit auf diese Weise von der Bevölkerung ein starkes Mandat für seine Ostpolitik zu erhalten. Wörtlich sagte er: 

„Die eigentliche Vertrauensfrage wird an den Souverän, also an den mündigen Wahlbürger zu richten sein.“

Das Kalkül ging auf: Brandt verlor die Vertrauensfrage, dafür gewannen seine SPD und die FDP bei den anschließenden Neuwahlen Stimmen hinzu, und er konnte seine Regierungs- und vor allem seine Ostpolitik fortsetzen.

Helmut Schmidt, 1982

Brandts Nachfolger als Bundeskanzler, sein Parteikollege Helmut Schmidt, stellte am 3. Februar 1982 ebenfalls die Vertrauensfrage. Hintergrund war die damalige Uneinigkeit der SPD-FDP-Koalition. Schon die Frage über den Nato-Doppelbeschluss 1981 war in der Regierung umstritten, zudem gab es Spannungen über Schmidts arbeitsmarktpolitisches Programm.

Schließlich stellte Schmidt die Vertrauensfrage. Bei der Abstimmung am 5. Februar 1982 erhielt er alle Stimmen seiner sozialliberalen Koalition und blieb damit im Amt – zumindest für einige Monate. Dann stellte die Unionsfraktion ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Schmidt, das sie gewann. Helmut Kohl wurde Bundeskanzler.

Helmut Kohl, 1982

Nachdem er erst im Oktober 1982 durch das konstruktive Misstrauensvotum Bundeskanzler wurde, stellte Helmut Kohl schon wenige Wochen später, im Dezember 1982, die Vertrauensfrage. Mit anderen Worten: Erst hatte das Parlament den CDU-Vorsitzenden zum Kanzler gewählt, dann entzog es ihm kurz darauf schon wieder das Vertrauen. Dies war jedoch von Kohl geplant: Wie zuvor Willy Brandt wollte er die Vertrauensfrage verlieren, um den Souverän – also die deutschen Wählerinnen und Wähler – darum zu bitten, ihm ihre Legitimation zu erteilen.

Wie zuvor bei Brandt war auch Kohls Vorgehen rechtlich umstritten. Der Plan ging dennoch auf: Die CDU und die FDP konnten bei den folgenden Wahlen im Jahr 1983 deutlich an Stimmen gewinnen und so ihre Regierung fortsetzen.

Gerhard Schröder, 2001

Gleich zwei Mal in nur sieben Jahren als Bundeskanzler stellte Gerhard Schröder die Vertrauensfrage. Beim ersten Mal im Jahr 2001 verknüpfte er die Frage mit einem konkreten Vorhaben: Die Bundesregierung wollte, dass Deutschland an der Seite der USA an der Militäroperation „Enduring Freedom“ teilnahm. Es ging also darum, Bundeswehr-Soldatinnen und -Soldaten nach Afghanistan zu entsenden. Der – am Ende rund 20 Jahre dauernde – Militäreinsatz war eine Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. Allerdings war die Entsendung der Soldaten in Schröders rot-grüner Koalition sehr umstritten, wogegen die oppositionellen Fraktionen von Union und FDP Zustimmung signalisierten.

Am Ende ging Schröders Pokerspiel gerade noch einmal gut: Mit zwei Stimmen mehr, als er für die absolute Mehrheit brauchte, stimmte der Bundestag für den Antrag der Regierung – und sprach damit auch Schröder gleichzeitig das Vertrauen aus.

Gerhard Schröder, 2005

Seine zweite Vertrauensfrage vier Jahre später verlor Gerhard Schröder – doch wie schon zuvor bei Brandt und Kohl war dies beabsichtigt. Schröder wollte Neuwahlen. Seine nach der Wahl 2002 ohnehin schon mit einer sehr knappen Mehrheit ausgestattete rot-grüne Koalition geriet immer weiter unter Druck. Grund war ihr Reformprogramm „Agenda 2010“, auch bekannt als „Hartz-Gesetze“. Sozialdemokrat:innen wie Grüne taten sich zunehmend schwer, unter anderem mit den härteren Regelungen für Langzeitarbeitslose, auf der Straße kam es zu Massenprotesten. Nachdem die SPD dann 2005 die Landtagswahl in ihrem „Stammland“ Nordrhein-Westfalen verlor, entschloss sich Schröder zur Flucht nach vorn und stellte die Vertrauensfrage.

Auch dieses Vorgehen war höchst umstritten, weil Schröders Manöver vielen als Wahlkampfmanöver vorkam, um die Opposition auf dem falschen Fuß zu erwischen. Wie geplant verlor er die Vertrauensfrage, weil sich 148 Abgeordnete enthielten – ungeplanterweise dagegen verlor Schröders SPD auch die Bundestagswahl und wurde Juniorpartnerin in der Großen Koalition unter Angela Merkel (CDU).

zum Thema

Quellen und weitere Infos

Zur Vertrauensfrage allgemein

Zur Vertrauensfrage allgemein

Gesetze im Internet: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 68

Bundeszentrale für politische Bildung: Vertrauensfrage

Tagesschau: Der Weg zur Neuwahl

Bundestag: Die Vertrauensfrage

Vertrauensfrage im Unterricht:

Arbeitsblatt „Mach's klar“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Zu den bisherigen fünf Fällen der Vertrauensfragen

Zu den bisherigen fünf Fällen der Vertrauensfragen

Willy Brandt, 1972

Helmut Schmidt, 1982

Helmut Kohl, 1982

Gerhard Schröder, 2001 und 2005

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